Jahrbücher
Oldenburger Münsterland
Kommentar von: | Cornelius Riewerts | Interne Nr.: | 9847-01 |
Woher kommt und was haben wir an Niedersachsen |
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Das Land Niedersachsen ist, dies wurde zum 50-jährigen "Landesjubiläum" am 1. November 1946 nochmals ins öffentliche Bewußtsein gerufen, eine "Kunstschöpfung" der britischen Militärregierung. Ähnlich verfuhren die Briten mit dem südlich des heutigen niedersächsischen Territoriums gelegenen Gebiet: Aus den einstmals preußischen Provinzen Westfalen, der nördlichen Rheinprovinz und Lippe machten sie das Bindestrichland Nordrhein-Westfalen. Hier wie dort unterlagen die Briten deutlich vernehmbaren Einflüsterungen der jeweils stärksten Landesteile: Hannoversche Politiker favorisierten die große niedersächsische Lösung ebenso massiv wie rheinische "Seilschaften" die Einverleibung des östlich gelegenen Westfalens und des kleinen Lipper Landes. Beide Länder haben bis heute - freilich abnehmende - Identifikationsprobleme und weisen einen gewissen Binnenföderalismus auf. | ||
Joachim Kuropka und Hermann von Laer haben es unternommen, zum 50-jährigen Bestehen des Landes Niedersachsen eine wertvolle Schrift zu edieren. die den historischen Wurzeln und wichtigen Analysen des Gegenwarts-Niedersachsens gewidmet ist. Der vielleicht etwas schwerfällig daherkommende Titel schlägt den Grundakkord gleichwohl stimmig an, stellt er die klassische Frage "Woher des Wegs, wohin?". | ||
Antworten geben Vechtaer Wissenschafter unterschiedlichster disziplinarer Herkunft. Wilfried Kürschner untersucht die Herkunft des Stammesbegriffs Sachsen, handelt "Sachsen" und "sächsisch" sprachgeschichtlich ab und unternimmt den Versuch einer Eingrenzung der Territorien, die "Nieder- und andere Sachsen" - so der Titel seines Aufsatzes - besiedelten. Edgar Papp ("Das Bild der Sachsen in der Literatur") unternimmt einen ebenso unterhaltsamen wie aufschlußreichen Streifzug durch die Literaturgeschichte, um der nicht immer schmeichelhaften zeitgenössischen Einschätzung der (Nieder-) Sachsen auf die Spur zu kommen - bis hin zum gebürtigen Niedersachsen (Vechtaer) Rolf Dieter Brinkmann und seinen Horrorgemälden von jenem Teil Niedersachsens in dem er geboren wurde. | ||
Bernd Ulrich Huckers Aufsatz handelt vom "Niedersachsen als Raumkategorie und Bewußtseinshorizont im Mittelalter". Er weist unter anderem nach, daß es eine "historisch-territoriale Kontinuität von den "alten" Sachsen bis hin zum Land Niedersachsen n i c h t gibt", daß aber von den "niederen" Sachsenlanden im Gegensatz zu den "oberen" schon Mitte des 13. Jahrhunderts die Rede war. | ||
"Hannovers Griff nach Westen" betitelt AIwin Hanschmidt seinen breit angelegten Aufsatz, in dem er eine - stets abgesicherte - Linie zieht vom Schritt über die Weser, den welfische Herzöge bereits im frühen 16. Jahrhundert unternahmen, bis hin zur Gründung des Hannover-dominierten Landes Niedersachsen, die unter erheblicher Einflußnahme hannoversch-welfischer Kreise in der deutschen Nachkriegspolitik zustande kam. Hanschmidts Arbeit berücksichtigt - wie fast alle Aufsätze des Bandes - die spezifisch-oldenburgische Perspektive besonders eingehend. | ||
Eine interessante Studie steuert Anabel Niermann bei, indem sie "Niedersächsische Kultfiguren in der NS-Zeit" untersucht: Widukind, die Stedinger, Till Eulenpiegel und Hermann Löns. Die Autorin weist die ideologisch zunächst unverdächtige historische Identität dieser Persönlichkeiten nach und schildert sehr plastisch deren propagandistische Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Relikte aus dieser Zeit sind zahlreiche Gedenkstätten, von denen Niermann weiß, daß sie nicht als aus der NS-Zeit stammend wahrgenommen werden: Sie sieht hier Aufarbeitungsbedarf. | ||
Eine Analyse der Niedersächsischen Verfassung in sehr prägnanter Form verdanken wir Lothar Waas, ("Die niedersächsische Verfassung als ein Dokument demokratischen Selbstverständnisses im Kontext deutscher Verfassungsgeschichte"). Der Verfasser führt historisch zuverlässig auf die erste Vorläufige Verfassung von 1951 hin, die als einzige Landesverfassung das Prädikat "vorläufig" aufwies und mithin eine "gesamtdeutsche Option" offenhielt. Eingehend wird auch der Weg zur jetzt geltenden Verfassung nachgezeichnet einschließlich des hierzulande stark unterstützten (erfolgreichen) Volksbegehrens zum Gottesbezug. | ||
"Eine Minderheit in Niedersachsen: Die Katholiken" behandelt Joachim Kuropka. Der Aufbereitung statistischen Grundlagenmaterials läßt der Autor Analysen an Fallbeispielen festgemachter Konfliktfelder zu zwischen den Konfessionen bzw. zwischen den politischen Mehrheiten und der katholischen Minderheit folgen. Kaum jemand weiß ja noch, daß noch 1955 die Konfessionsstruktur der höheren Beamtenebene in der Landesregierung zu einem erbitterten Landtagsstreit führte und welche extreme Belastung die Konfessionsschuldebatte für das junge Bundesland - vor allem für seine katholischen Bürger - bedeutete. | ||
Hermann von Laer beleuchtet "Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in Niedersachsen und seinen Regionen". Er betrachtet insbesondere die aktuelle Wirtschaftspolitik auf Landesebene sehr kritisch und weist am Beispiel des Oldenburger Münsterlandes nach, daß die "Rückständigkeit" früherer Jahrzehnte kein Schicksal sein muß - mehr noch, daß nämlich eine regionale Beschäftigungs- und Strukturpolitik erfolgreich sein kann, auch gegen den Landestrend. Spannend nicht allein für Schulexperten ist Holger Morawietz Beitrag "50 Jahre Schulpolitik in Niedersachsen". Der Autor geht sehr gründlich der Entwicklung des Schulwesens nach und widmet verständlicherweise der Entscheidung für die Orientierungsstufe (1971) und der Zulassung von Gesamtschulen als Regelschulen (1974) breiten Raum. Beide Schulformen sind bekanntlich bis heute zentrale Streitpunkte zwischen den politischen Lagern. Die selbstgestellte Frage, ob Niedersachsens Schulpolitik seit 1946 durch "Kontinuität oder Zickzackkurs" geprägt war, beantwortet Morawietz - bewiesen durch seine Thesen - mit "Kontinuität und Zickzackkurs". | ||
Das diffizile Feld der Raumplanung arbeitet Ortwin Peithmann auf ("50 Jahre Raumplanung in Niedersachsen - Ziele und organisatorische Voraussetzungen"). Er würdigt eingehend die bedeutende, aber auch zwiespältige Rolle des ersten "Landesplaners" Kurt Brüning, das legendäre Emslandprogramm und zeigt auf, wie sich Planungsaktivismus und unterschiedliche, auch ideologisch fundierte Planungsmodelle praktisch auswirkten - bis hin zur Frage der Regionen, die als von der EU vorgegebenes Thema in jüngster Zeit an Gewicht gewonnen hat. Rainer Ehrnsberger untersucht "50 Jahre Naturschutz in Niedersachsen" und schildert, wie sich dieser Sektor des Umweltschutzes "von null" an zu einer festen Große entwickelt hat. Der Autor zeigt an vielen - darunter auch aus der heimischen Region stammenden - Beispielen Erfolge und auch Stagnation im Naturschutz. Ehrnsberger ist zuzustimmen, wenn er für die stärkere Akzeptanz des Naturschutzes mehr ökologische Bildung an den Schulen und eine entsprechende Akzentuierung in der Lehrerausbildung fordert. | ||
Ein rundfunktheoretischer Essay von Bernd Kießling beschließt den Band: "Privater Hörfunk in Niedersachsen - Radio ffn als Kommunikationsapparat". Der informative Aufsatz hat einen starken kulturkritischen Ansatz, der mitunter Gefahr läuft, als generelle Einstellung gegen privaten Hörfunk verstanden zu werden. Kießling findet indes in der Programmanalyse genügend nachvollziehbares Material für seine These von der "Schwundkommunikation", die der Autor namentlich an den Sendungen mit Hörerbeteiligung festmacht. | ||
Insgesamt darf den Herausgebern attestiert werden, daß sie einen der besten Bände in der anspruchsvollen Sammlung der "VUS" herausgebracht haben. Alle Beiträge sind wissenschaftlich fundiert, aber in einer auch den Laien verständlichen Sprache abgefaßt und stellen sich als Facetten eines farbigen Niedersachsenbildes dar. Farbig, weil kritisch und farbig, weil der oldenburgische und gerade auch südoldenburgische Anteil an dem, was Niedersachsen darstellt, in fast jedem Aufsatz eine zentrale Rolle spielt. |
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