Jahrbücher
Oldenburger Münsterland

 

Kommentar von:

Günter Wilhelms

Interne Nr.: 0049-02
 
 
Gelebter Glaube, Hoffen auf Heimat
 
  In der Einführung zitiert Hirschfeld den ersten Vertriebenenbischof Maximilian Kaller mit den Worten. „Ohne Heimat kann der Mensch nicht leben; wir wurden aus ihr herausgerissen, nun gilt es, neue Heimat zu suchen, zu finden und zu bilden.“ (12) Dem Heimatbewußtsein der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nachzuspüren, seine Bedeutung für die Integration, in die politische und kirchliche Gemeinschaft des Westens zu zeigen, ist die Intention dieses Sammelbandes, das dem Vertriebenenseelsorger Oskar Franosch gewidmet ist anläßlich seines 100. Geburtstages.  
  Im Mittelpunkt des ersten Aufsatzes von Johannes Gröger: „An die Seelen dieser Menschen herankommen“. Vertriebenenseelsorge (Seiten 19-70), steht die Re-Organisation und Strukturierung der vertriebenen Katholiken und eine Auflistung der zahlreichen Gründungen von Verbänden, Vereinen, Zeitschriften, Beauftragten sowie des religiösen Lebens (Wallfahrten, Jubiläen u.a.) im Bistum Münster. Der Autor will zeigen, daß die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge einen wesentlichen Beitrag zur gelungenen Integration geleistet hat (vgl. Seite 67). Im zweiten Beitrag von Markus Trautmann wird Geschichte in Form einer Biographie lebendig: „Arm ist nur, der keine Liebe hat!“ Leben und Wirken des Seelorgers Oskar Fransch (1899-1992) in den Diözesen, Breslau und Münster (Seiten 71-126). Die Zumutungen der Integrationsforderung lebbar zu machen, war das Ziel seiner pastoralen Bemühungen. Heimatpfarrer und Wallfahrten wurden zu Symbolen der alten Heimat und vermittelten zwischen Verlusterfahrung und Hoffnung auf die neue Heimat. - Der nächste Aufsatz von Michael Hirschfeld schreibt die Geschichte einer einzelnen Gemeinde: „Gleich eine herzlichere Familiengemeinschaft“. St. Hedwig in Ganderkesee als Beispiel für den Aufbau einer Vertriebenengemeinde im Bistum Münster (Seiten 127-151). Wieder hängt diese Aufbaugeschichte an einem bestimmten Seelsorger, dem Pfarrer Helmut Richter. Das Resümee dieses Aufsatzes gerät etwas willkürlich, wenn es reichlich unvermittelt von „nostalgischen Elementen“, „restaurativen Zügen“, „fortschrittlicher Haltung“ in Liturgie und Sakramentenfrömmigkeit spricht (vgl. Seiten 146f). Gerade über diese integrative Funktion bestimmter Frömmigkeitsformen wüßte man gern mehr und genaueres. - Hans-Georg Aschoff beleuchtet einen weiteren Grundvollzug der Kirche in seiner organisatorischen Ausfaltung: „Die Fremden beherbergen“. Leistungen der Caritas für Vertriebene und Flüchtlinge im Bistum Münster (Seiten 153-186). Dieser Aufsatz liefert umfassendes Zahlenmaterial über die Flüchtlingsströme und die Konsequenz für die kirchliche Infrastruktur, nennt Namen, Daten, Strukturen erfolgter HiIfsmaßnahmen und Initiativen zur Integration der Vertriebenen. Wieder dominiert die Materialsammlung, die um der Lesbarkeit willen auch im Anhang Platz gefunden hätte. – Dieter Sauermanns Aufsatz, „Aus allen Bindungen der Heimat herausgerissen“. Vertriebenenseelsorge und Sonderbewußtsein der Vertriebenen (Seiten 187-217), versucht vermittels vieler Erlebnisberichte den Zusammenhang zwischen Religion und Heimatbewußtsein herauszustellen. Wie auch in den anderen Beiträgen zeigt sich, daß die Geistlichkeit den bevorzugten Identifikationspunkt für die Vertriebenen bildete. Auch wenn Sauermanns Grundstimmung mitunter sehr negativ ausfällt (große Unterschiede in Frömmigkeit und Liturgie hemmten eine Beheimatung (vgl. S. 191ff)); die Gesellschaft verlangte von den Vertriebenen eine „totale Anpassung“ an die vorgefundenen Verhältnisse und die Vertriebenen „beugten sich“ (Seite 206), so klingt sein Resüme doch anders: Für die Vertriebenen gibt es zwei Heimaten: eine alte und eine neue. D. h. die zweite Heimat als „neues Aktionsfeld“ zu verstehen und ein „neues Lebensgefühl zu schaffen“ (Seite 211). - Als besonderes Beispiel einer religiösen Lebensform hat Michael Hirschfeld die Wallfahrten ausgewählt: Auf der Suche nach einem Ort der besonderen Nähe Gottes. Zur Gründung und Entwicklung der Vertriebenenwallfahrten im Bistum Münster (Seiten 217-238). Nach einer umfangreichen Auflistung erscheint der Versuch besonders bemerkenswert, die Wallfahrten in Phasen einzuteilen: von der Phase der Trostspendung, der politischen Funktionalisierung, der Resignation bis hin zur Phase des Brückenbaus in die europäische Zukunft (vgl. 232ff.). - Schließlich zeichnet Winfrid Äshoff Werk und Leben eines vertriebenen Künstlers nach: Der Bildhauer Joseph Krautwald. Ein Leben für die Darstellung von Kraft und Schönheit des christlichen Glaubens (Seiten 239-262).  
  Der sehr umfangreiche Anhang enthält statistisch-biographische Beiträge: Kurzbiographien ostdeutscher Priester, Kurzbiogramme nach 1945 geweihter ostdeutscher Priester, eine SammIung der Orden und Kongregationen aus den deutschen Ostgebieten, christliche Kunstschaffende, Statistiken über die Vertriebenen und eine Auswahlbiographie. Die vielen Illustrationen tragen zur Verlebendigung des Textes bei. Es ist, um die Einleitung zu zitieren, ein Werk zum „Schmökern“ und zum „Nachschlagen“ (Seite 13).  
  Dieser Band stellt sicherlich eine wichtige Ergänzung der neueren Bistumsgeschichte dar. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine umfängliche Bestandsaufnahme und Materialsammlung und weniger um eine kritische Aufarbeitung und Interpretation der Geschichte der Heimatvertriebenen im Bistum Münster. Ob damit das in der Einleitung vorgegebene Ziel, nämlich die „Aufarbeitung des Anteils heimatvertriebener Katholiken am religiösen Leben in den Gemeinden und Organisationen des Bistums und des durch sie hervorgerufenen Strukturwandels“ (Seite 12) schon erreicht ist, eine „Verortung des Anteils kirchlicher Vertriebenenarbeit an der Nachkriegsentwicklung auf dem kirchlichen Sektor und des von den Vertriebenen ausgelösten Strukturwandels nach 1945“ (Seite 13), darf bezweifelt werden. Denn gerade die hier angesprochene Vermittlung, die Gestaltung und Bewältigung des mit der Vertreibung erzwungenen Integrationsproblems im Kontext der katholischen Kirche, bleibt unterbelichtet. Zu sehr steht doch die Suche nach der (verlorenen) Identität der Vertriebenen, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat im Vordergrund. Deshalb werden vornehmlich Leser aus dem Kreis der Heimatvertriebenen und wissenschaftlich Interessierte angesprochen.  
  Können nicht die Vertriebenen zu Recht stolz sein auf ihren Beitrag zur Gestaltung der Nachkriegsgesellschaft, haben sie nicht die Kirche im Westen „belebt und bereichert“, wie es der apostolische Visitator Winfried König in seinem Geleitwort formuliert hat? Und haben sie sich durch die Integration hindurch nicht auch weiterentwickelt, von den „Einheimischen“ profitiert oder gelernt? Ein Heimatbegriff, wie ihn der eingangs zitierte Vertriebenenbischof Kaller im Sinn hat, als theologischer Begriff, will die Spannungseinheit aufrechterhalten zwischen Herkunft und Aufgabe, eine Spannungseinheit, die alle menschlichen Ideen und Wünsche als vorläufige entlarvt und vor jedem Revanchismus und jeder materialistischen Verengung des Begriffs bewahren kann.  

 

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Stand: 04. April 2009